Der Pfefferberg in den Neunziger Jahren

In der kulturhistorischen Zwischenzeit des Nachwendeberlins wurden die Gebäude des Pfefferbergs durch eine fluktuierende, bunte Mischung verschiedenster Kulturproduzenten, Dienstleister und Gewerbetreibender genutzt.
Populär und mitbestimmend für die Jugendkulturgeschichte der Stadt in den neunziger Jahren waren die Clubs und der romantisch-morbide Biergarten mit angrenzendem Saal an der Schönhauser Allee. Explizit die sommerlichen Open- Air-Konzerte und Performances förderten hier das kollektive Gefühl für den neuen Ostteil der Stadt, das von Aufbruchsstimmungen und apokalyptischen Assoziationen gleichermaßen geprägt wurde.

Federführend in diesem Areal war der Pfefferwerk Verein zur Förderung von Stadtkultur e.V. Er organisierte rund 200 Kulturveranstaltungen pro Jahr und zog Tausende von Besuchern an. Der Schwerpunkt der Konzertaktivitäten lag zu Beginn in der Weltmusik. Im Laufe der Zeit konzentrierten sich die Kuratoren zunehmend auf frankophone Klangprojekte. Auch Künstler aus dem Maghreb und Schwarzafrika waren auf den Bühnen des Pfefferbergs präsent. Angesagt waren zudem osteuropäische und lateinamerikanische Gruppen. Das jährlich stattfindende Flamencofestival erreichte Kultstatus. Ergänzend zu den rein konzertanten Darbietungen entstanden die „Tanztage“ als weiteres erfolgreiches Großprojekt.


Die elektronische Musik erlebte im Berlin der frühen Neunziger ihre kreative Blütezeit. Die Clubs des Pfefferbergs wurden zu Laboratorien der neuen Bewegung. DJs kooperierten mit bildenden Künstlern, um Klänge mit Projektionen und Lichtgestaltungen zu Rauminstallationen zu fusionieren. In der wärmeren Jahreszeit drängten die Projekte bisweilen aus dem Souterrain nach oben und verwandelten den Biergarten in ein futuristisches Environment.

Das an die Christinenstraße angrenzende Gelände hinter den Veranstaltungsorten blieb der breiten Öffentlichkeit zunächst weitestgehend unbekannt, doch zeigten sich die wenigen entdeckungshungrigen Besucher von dessen post-industrieller, ruinöser Pracht stets beindruckt. Geschichte konnte direkt von den Gebäuden abgelesen werden. Halbzerbomte Häuser wurden mit Trümmersteinen wieder zur Einheit geformt.
An diesem Ort eröffneten sich weitere Freiräume, die im Laufe der Zeit von einer heterogenen, vielgestaltigen Mietergemeinschaft genutzt wurden.
Auf dem Pfefferbergareal an der Christinenstraße befand sich ab 1996 die Geschäftsstelle der Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH, die sich seitdem maßgeblich in der Kinder- und Jugendarbeit engagiert, den Dialog der Generationen fördert, Angebote für Migranten konzipiert, Werkstätten betreibt und schließlich Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsprojekte durchführt. Darüber hinaus waren dort weitere gemeinnützige Träger und Initiativen aktiv, wie der mob e.V., die WeTeK e.V., der Förderband e.V. und das Interkulturelle Netzwerk, die das soziokulturelle Spektrum mit verschiedenen Angeboten erweiterten.

Neben den Firmen des Pfefferwerk-Verbundes entstanden Künstlerateliers, Steinbildhauerwerkstätten, ein Architekturbüro, kleine Handwerksbetriebe, ein holländischer Biergroßhandel und einige vorübergehend existente Partyveranstalter, über deren Legalität man auch posthum noch streiten könnte. Schnell ergaben sich Synergieeffekte zwischen den damaligen Mietern, ähnlich wie sie sich auch in der Gegenwart des neu entwickelten Pfefferberges einstellen. Viele Firmen und Initiativen, die sich damals in ihren Anfängen befanden, haben sich mittlerweile zu renommierten Unternehmen entwickelt. Die Pinguin Druck GmbH von Alexander Mende und die orange architekten, die in der Marienburger Straße auch ein post-industrielles Gebäude entwickelt haben, sowie die Steinbildhauer Hamann und Lucker, die mit Ihrer Oberbaum GmbH große Teile der Museumsinsel restauriert haben, mögen als Beispiele dienen.
Die Arbeit an und in den individuell genutzten Räumen des Pfefferbergs fand im Bewusstsein einer unmittelbaren zeitlichen Begrenztheit statt, da situationsbedingt keine dauerhaften Mietverträge ausgehandelt werden konnten. Dennoch erforderte die verwitterte Bausubstanz naturgemäß handwerkliches Engagement.
Improvisation war das Wort jener Tage. Türen mussten eingebaut, Strom- und Wasserleitungen verlegt werden. Im Winter knisterten archaische Öfen.

So paarte sich Unsicherheit mit Freiheit und sorgte für Flexibilität und kreativen Aktionismus. 1998 inszenierte die Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe „thomas bernhard. eine einschärfung“ mit Künstlern des am Ort tätigen MEINBLAU e.V. „Die lange Nacht des Thomas Bernhard“ auf dem Pfefferberg. Im Zentrum des Südhofs wurde ein zwanzig Meter langer „Thomas-Bernhard-Sarg“ aus Kanthölzern konstruiert und mit rostigen Blechen verkleidet. In der Oberfläche der Installation befanden sich kaum erkennbare Klappen, unter denen sich die Akteure im Vorfeld der ersten Darbietung verborgen hielten. Nach dem Eröffnungsmonolog des Schauspielers und Regisseurs Martin Engler tauchten urplötzlich einige verwegene Gestalten aus dem Untergrund auf. Die Aufführung des frühen Thomas-Bernhard-Dramas „Ein Fest für Boris“ hatte so ihren spektakulären Auftakt. In den angrenzenden Gebäuden wurden Lesungen und dramatisierte Textcollagen dargeboten. Nahezu alle Nutzer waren in irgendeiner Form an dem Projekt beteiligt, indem sie Raum zur Verfügung stellten und logistische Unterstützung boten.
Der 1997 gegründete MEINBLAU e.V. ist nach wie vor mit einem Kunst- und Atelierhaus auf dem Pfefferberg präsent. In den neunziger Jahren realisierte er neben diskursiven Ausstellungen vor allem interdisziplinäre Kunstprojekte, vereinte Bildende Kunst, Theater, Literatur und Musik zu nonkonformen Performance Acts. 1999 begann er mit seiner internationalen Tätigkeit und organisierte die Berliner Sektion auf der Kunstbiennale in Genua „Arti Visive 3“.

In der Gegenwart finden die inhaltlichen Ursprünge des Areals – eingebettet in das ästhetische Erscheinungsbild des neuen Pfefferbergs – ihre folgerichtige und professionelle Entsprechung. Es wurde ein Ort geschaffen, der soziale Projekte mit junger und etablierter Kultur vereint.

Bernhard Draz im November 2009